Tai Chi Chuan
Dienstag abend in der Tai Chi-Schule. 12 Menschen bewegen sich fast völlig synchron und in Zeitlupe. Nur die Geräusche, die ihre langsamen Bewegungen verursachen, sind zu hören. Jeder achtet auf seine Bewegung, die er möglichst präzise ausführt und so ergibt sich ein harmonisches Ganzes. Bewegung bei äußerer Ruhe führt zu innerer Gelassenheit. Tai Chi Chuan, das bedeutet Meditation und Körperbeherrschung. Es ist in jedem Alter erlernbar und durch seine Langsamkeit frei von Verletzungsrisiko und Leistungsdenken. In China, dem Ursprungsland des Tai Chi Chuan, wo es seit Jahrhunderten geübt wird, bekommt man einen guten Eindruck von dieser Kunst, wenn man früh genug aufsteht und morgens in den Park geht. Dort sind die verschiedensten Bewegungsformen und -stile des Tai Chi Chuan zu beobachten. Vor allem zwischen 6.00 und 7.00 Uhr treffen sich dort die chinesischen Tai Chi-Praktiker und beginnen ihren Tag mit dem "Schattenboxen". Den Europäer zieht es dagegen doch eher weg von den staunenden Augen des Publikums und zum Lernen bietet sich der Feierabend an Stelle des Termins vor Arbeitsbeginn an. Die langsame Form
Noch im 19. Jahrhundert wurde Tai Chi Chuan in China intensiv als Kampfkunst trainiert. Ziel war es, sich selbst oder andere zu verteidigen. So wurde z.B. die Leibgarde des chinesischen Kaisers in dieser Kampfkunst unterrichtet. Heutzutage wird Tai Chi Chuan meist eher als Körpererfahrung, Meditation in Bewegung oder Heilgymnastik trainiert. Für viele Menschen im Westen ist gerade die Vereinigung der Gegensätze Ruhe und Bewegung attraktiv. In einer Welt der Hektik und des Sitzens ist das Bedürfnis sich zu entspannen, aber sich auch zu bewegen, leicht zu verstehen. Diese gesundheitsfördernde und entspannende Wirkung findet sich vor allem in der langsamen Form. Sie ist eine Folge von natürlichen Bewegungen, die langsam, locker und fließend ausgeführt werden. Die Bewegungen der Form entfalten sich ohne Kraft auf natürliche Weise durch die Gelenke hindurch. Sie werden dabei korrekt und präzise ausgeführt und von einer natürlichen Atmung begleitet. Der Geist ist entspannt, ohne sich stark anzustrengen oder gar abzumühen, in einem Zustand natürlicher Behaglichkeit und Ungezwungenheit. Die richtige Körperhaltung
Entscheidend in der langsamen Form ist eine bewußte und richtige Haltung des Körpers. Nur mit einer richtigen Körperhaltung harmonieren Atmung und Bewegung. Bei der richtigen Körperhaltung kommt es vor allen Dingen auf fünf Prinzipien an:Aufrechte Haltung des Kopfes (Xuling Dingjing), Schulter senken und Ellenbogen hängen lassen (Chenjian Zhuizhou), gerader Rücken (Hanxiong Babei), aufrechtes Steißbein (Weilü Zhongzheng), und Becken senken (Songyao Chuidian). Es sollen also bei jeder Bewegung Steißbein, Rücken, Nacken und Kopf in einer Linie bleiben und weder zur Seite verkrümmt noch nach vorne oder nach hinten gebogen werden. Dies führt auf Dauer zu einer generellen Verbesserung der Körperhaltung und einer Lockerung verspannter Muskulatur, was Tai Chi Chuan gesundheitlich so wertvoll macht. Nach langer Zeit des Übens kann man außerdem einen hohen Grad an Konzentration erlangen. Zur Erhaltung dieser Konzentration ist es wichtig, daß man beim Üben der Form an nichts denkt. Wenn man während der Form darüber nachdenkt, wie man die verschiedenen Bewegungen ausführen soll oder wie sie angewendet werden können, leidet die Konzentration. Dies führt zu Disharmonie und Brüchen in den Bewegungen und stört die angestrebte Ruhe. Die fünf Aspekte des Tai Chi Chuan vom Meister Ma Yueliang
Ma Yueliang (1901-1998) verbreitete den Wu-Stil des Tai Chi Chuan in ganz China und brachte es zusammen mit seinem Sohn Ma Jiangbao nach Deutschland. Für das Üben der Form formulierte Meister Ma Yueliang nach 70 jähriger Erfahrung fünf wesentliche Aspekte: Jing (Ruhe):Das Bewußtsein ist konzentriert und die Atmung ist gleichmäßig. Das nennt man die Ruhe des Körpers. Die Bewegungen sind leicht, gewandt und fließend, ohne Stockungen. Das nennt man die Ruhe des Herzens. Qing (Leichtigkeit) Die Leichtigkeit ist ein Komplement zur Schwere. In dem Klassiker "Tai Chi Chuan Jing" heißt es:"Tai Chi entsteht aus dem Nichts. Es ist das Bindeglied zwischen Bewegung und Ruhe und die Mutter von Yin und Yang." Hier gilt besonders:"In jeder Bewegung soll der ganze Körper leicht und beweglich sein, als wären alle seine Teile auf einem Faden aufgereiht." Man (Langsamkeit):Langsamkeit bedeutet keinen Stillstand. Sie beinhaltet das Fließen der Bewegungen ohne Unterbrechungen und verlangt, nach den Regeln schrittweise vorzugehen. Qi (Gewissenhaftigkeit):Gewissenhaftigkeit hat zwei Bedeutungen:Zum einen sollte man gewissenhaft die Bewegungen ausführen, zum anderen sollte man ernsthaft und solide sein und sich bei jeder Bewegung Mühe geben. Außerdem verlangt die Gewissenhaftigkeit, die eigenen Bewegungen auf Richtigkeit zu überprüfen. Nur so kann man Fortschritte machen. Heng (Ausdauer):Unter Ausdauer ist zuerst Beharrlichkeit zu verstehen. Ob strenge Kälte oder drückende Hitze, man sollte stets regelmäßig üben. Das ist ein Prozeß zur Prüfung des Charakters und der Willensstärke der Lernenden. Tai Chi, der höchste Pol
Der Name Tai Chi Chuan setzt sich aus zwei Komponenten zusammen:"Tai Chi" und "Chuan". Die Übersetzung des Wortes Tai Chi ist sehr schwierig, da es sich um einen Fachterminus der chinesischen Philosophie handelt. Man findet den Begriff in vielen klassischen Texten, die oft, aber nicht immer daoistischen Ursprungs sind. Die Hauptstelle, auf die sich immer wieder berufen wird, findet sich in den Anhängen des Buches der Wandlungen (I Ging) aus vorchristlicher Zeit, wo es heißt:"In den Wandlungen gibt es das Tai Chi, welches die zwei Instrumente (Yin und Yang) erschafft." Der Begriff selber setzt sich aus zwei Schriftzeichen "Tai" und "Chi" zusammen. Das Schriftzeichen für "Tai" wird im chinesischen als Präfix für den Superlativ verwendet. Das Schriftzeichen "Chi" kann von alters her sowohl als "First" oder "Firstbalken", als "Pol" oder auch als "Extrem" bzw. "Äußerstes" übersetzt werden. Bei der Zusammensetzung "Tai Chi" handelt es sich je nach Übersetzung also um den "Höchsten First (-balken)", den "Höchsten Pol", das "Höchste Äußerste" oder das "Höchste Prinzip". Gemeint ist aber immer der philosophische Fachterminus, der besagt, daß das Tai Chi die Grundlage zur Entstehung der beiden Polaritäten Yin und Yang ist. Das Zeichen "Chuan" bedeutet Faust bzw. Faustkampf. Tai Chi Chuan ist also die Kampfkunst, die auf der Harmonie von Yin und Yang beruht. Die fünf Familien
Die Geschichte des Tai Chi Chuan reicht weit in die chinesische Vergangenheit. Bis zum Ende des chinesischen Kaiserreiches 1911 war Tai Chi Chuan die Kampfkunst eines kleinen Zirkels, da es nur an wenige unterrichtet wurde. Erst im Jahr 1912 gründete Xu Yusheng die Forschungsgesellschaft für Leibeserziehung in Peking und lud die großen Meister dieser Zeit, wie Wu Jianquan, Yang Chengfu, Yang Shaohou und Sun Lutang ein, ihre Kampfkunst zu lehren. Hiernach wurde Tai Chi Chuan nun öffentlich unterrichtet und in breiten Schichten der Bevölkerung verbreitet. Durch diese Möglichkeit, Tai Chi Chuan zu lernen, wuchs die Zahl der Tai Chi-Schüler schnell an und die modernen Tai Chi-Stile kristallisierten sich heraus. Erst hiernach wurden den Stilen ihre offiziellen Namen nach den fünf Familien Chen, Yang, Wu, Wu(Hao) und Sun gegeben. Während dieser Entwicklung kam es zu einigen Änderungen in den Positionen, aber sie waren nicht sehr groß - noch immer kann man sehen, daß alle verschiedenen Schulen des Tai Chi Chuan ähnliche Positionen haben. Tai Chi Chuan mit Partner oder Waffe
Tai Chi Chuan kann auch als Soloform mit der Waffe (Säbel, Lanze, Schwert) oder mit dem Partner ausgeführt werden. Die Waffenformen werden in der Regel schneller als die langsame Form ausgeübt und erfordern ein hohes Maß an Können. Bei den Partnerübungen geht es darum, die in der Form erlangte innere Ruhe nach außen zu tragen und zu erhalten. Die Ausführung der Partnerübungen ist sehr weich und sanft. Wenn man sie übt, versucht man einen ruhigen Geist zu behalten, nicht aktiv anzugreifen und die Bewegungen mit möglichst großer Leichtigkeit zu führen. Man sagt:"Leichtigkeit in der Bewegung führt zu Beweglichkeit, Beweglichkeit ermöglicht den Wechsel und der Wechsel führt zum Neutralisieren." Leichtigkeit bedeutet aber nicht, daß gar keine Kraft gebraucht wird. Die Kraft wird nur zurückgehalten und dem Partner nicht gezeigt. Um die Kraft des Partners zu spüren, muß man ein sehr feines Gefühl (Tingjin) entwickeln. Wenn dies gelingt, kann das Wissen über Richtung und Stärke der Kraft des Partners dazu benutzt werden, diesen aus dem Gleichgewicht zu bringen. Dies bedeutet dem Prinzip "Überwinde Härte mit Weichheit (Yi Rou Ke Gang)" zu folgen. Es gilt:Im Tai Chi Chuan ist es angeraten, nicht Kraft gegen eine Kraft zu verwenden oder nach der ersten Offensive zu trachten, denn sonst schlägt derjenige mit der größeren Kraft den Schwächeren und die schnellere Hand dominiert über die langsamere. Wie finde ich einen guten Lehrer
Nach Ma Jiangbao, Sohn von Ma Yueliang und Vertreter des Wu-Stil in Europa, gibt es drei Kriterien für einen guten Tai Chi-Lehrer: Er muß Tai Chi Chuan in Theorie und Praxis gut beherrschen, d.h. er sollte neben einer langsamen Form auch Partnerübungen und Waffenformen sicher ausführen können und in der Lage sein, diese zu erklären und Fragen zu beantworten. Zwischen der Erklärung und der eigenen Ausführung sollte kein Widerspruch bestehen. Die dritte Voraussetzung ist, daß der Tai Chi-Lehrer selbst Tai Chi liebt. Nur dann wird er selbst ständig weiterlernen, denn das Erlernen von Tai Chi sollte für ihn ein lebenslanger Prozeß sein, der mit einem hohen Anspruch an sich selbst verbunden ist. Nur dann wird er auch den finanziellen Aspekt beim Unterrichten nicht in den Vordergrund stellen. Ein seriöser Tai Chi-Lehrer wird außerdem Auskunft darüber geben, bei welchem Lehrer er selbst gerade lernt und dem Schüler auf Dauer Zugang zu diesem Lehrer ermöglichen. Von Dr. Martin Bödicker
Dr. Martin Bödicker ist Leiter des Forums für traditionelles Wu Tai Chi Chuan, das mit Meister Ma Jiangbao auch überregional Ausbildungen anbietet. Kontakt:Tai Chi-Center Bilk, Johannes-Weyer-Str. 7, 40225 Düsseldorf, Tel. (02 11) 31 99 29, Email:
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